DIGITALE KULTUR,
Digitalität &
Digitalisierung des Theaters
Während der Entwicklung von jtw-PLAY haben wir kluge Köpfe im Netz getroffen und sie nun zu einem Zitate-Mashup geladen. Welche neuen Möglichkeiten bietet die jetzige Krise und wie kann ein Post-Corona-Theater aussehen? Ein fiktives Gespräch mit unseren Gästen:
Katja Grawinkel-Claassen (Dramaturgin und Medienwissenschaftlerin) + Christopher Rüping (Regisseur) + Sascha Westphal (Film- und Theaterkritiker) + Dr. Christian Rakow (Co-Chefredakteur von nachtkritik.de) + Dr. Lothar Schröder (Leiter der Kulturredaktion Rheinische Post) + Philip Auslander (Professor für Performance-, Cultural- & Media Studies) + Fabian Raith (Medienkünstler) + Uwe Mattheiß (Journalist) + Felix Lemp (Medienwissenschaftler) + Kay Voges (Direktor Volkstheater Wien) + Cornelius Puschke (Dramaturg) + Tina Lorenz (Theater-, Film- und Medienwissenschaftlerin) + Jay Rosen (Journalist)
KATJA //: Das Theater als Widerstand gegen die Welt der digitalisierten Massenkultur. In dieser Rolle hat es sich lange ziemlich wohl gefühlt. Aber was sind wir noch wert, wenn wir nicht (be)spielen? Was ist ein Theater ohne Programm? Sind die Zuschauer*innen “noch da” und sitzen alleine zu Hause oder ist ein Publikum erst ein Publikum, wenn es sich im Saal versammelt?
CHR1STOPHER //: Ich könnte mir vorstellen, dass es einen Zeitpunkt gibt, in dem die Einsamkeit, die durch eine Quarantäne-Situation entstehen kann, die soziale Isolation, dass die es notwendig macht, dass wir uns gemeinschaftlich nach Formaten auf die Suche begeben, die etwas helfen können.
SASCHA //: Das Theater kann nicht so einfach in den digitalen Raum abwandern. Es verändert sich dabei grundlegend.
SASCHA //: Moment, ich muss mich korrigieren. Natürlich kann auch die Kunst ins Netz abwandern, vor allem, wenn sie dazu gezwungen ist. Aber einen entscheidenden Teil ihrer sozialen Funktion verliert sie dadurch.
LOTHAR //: Stimmt, das Gemeinschaftserleben wird zunehmend verlorengehen, was bislang sinnstiftend für unsere Kulturrezeption ist.
KATJA //: Aber ist es nicht auch möglich, Gemeinschaft über Medien herzustellen? Natürlich ist das eine andere Form der Gemeinschaft, aber in Zeiten, in denen das Theater – wie der Rest der Welt – auf das Internet angewiesen ist, sollte man die Möglichkeit doch lustvoll erkunden. Philip betont ja, dass nicht nur das klassische Live-Konzept, sondern auch die Liveness der Medien Formen der Gemeinschaft ermöglicht. Auch Internet-Liveness als ein Gefühl der Ko-Präsenz von User*innen zählt Philip dazu.
PH1L1P //: It is often suggested that the experience of live performance builds community.
FAB1AN //: Digitale Theatererzählungen werden das Theater als sozialen Raum und als soziales Erlebnis nicht ersetzen. Sie können es aber um weitere Elemente ergänzen und so multimediale Narrationen, die auf sozialem Erleben fußen, ermöglichen. So kann das performative Ereignis ausgedehnt, bereits weit vor Einlass begonnen und auch danach fortgesetzt werden. Die jetzige Situation ist die absolute Ausnahme. Trotzdem kann dies für Theater die Chance sein, neue Strukturen und Formate zu entwickeln, im Analogen wie im Digitalen.
UWE //: Etwa Live-Streams? Es wird gestreamt, bis die Router in die Knie gehen. Beobachtet eigentlich jemand, was aus der ganzen schönen Kunst wird, wenn sie in die Körperlosigkeit des digitalen Vakuums entweicht? Was sind ihre Werke ohne den „Schmutz“ der Materialien, was ist darstellende Kunst ohne die körperliche Präsenz von Akteur*innen und Publikum? Ich sage: Hört auf zu streamen!
FEL1X //: Da muss ich Uwe Recht geben. Bei keiner der gestreamten Inszenierungen ist ihre digitale Präsentation konzeptioneller Ansatz. Das Streaming ist und bleibt daher mal schlechter gemachte, mal besser begleitete Notlösung, bleibt Surrogat für die Unmöglichkeit der körperlichen Ko-Präsenz von Publikum und Performenden und markiert in diesem Sinne eher einen ästhetischen Mangel, als dass es ihn behebt.
CHR1ST1AN //: Ich meine mich erinnern zu können, dass Christopher in den letzten Tagen verschiedentlich sagte: Streams verengen das Theater auf den “informativen Wert“. Was sicherlich die theoretisch prägnanteste Formulierung dieser Schrumpfungsdiagnose ist.
CHR1STOPHER //: Danke.
CHR1ST1AN //: Aber was gibt es von diesen Streams mehr zu sagen als die offensichtliche Verlusterzählung? Um diese Frage zu beantworten, muss man den Blick vom Ursprung umlenken auf die Praxis, die in der Netzkultur an jedwede Erzeugnisse und also auch an das multimedial transformierte Theater anschließt. Plötzlich kann man auch in Berlin schauen, wovon in Düsseldorf die Rede ist. Das Privileg von Kurator*innen und Dramaturg*innen, selbst ohne Reiseaufwand breit zu sichten, demokratisiert sich.
UWE //: Mir geht es um einen reflexiven Gebrauch, der Medien nicht einfach verwendet, sondern als Material begreift. Als eines, das Inhalte nicht nur transportiert, sondern auch transformiert. Medien haben eigene Spielregeln und auch eine Botschaft – sich selbst.
FAB1AN //: Personen, die vor Screens etwas rezipieren, tun dies, Fernseher ausgenommen, momentan meist allein. Die Entscheidung darüber, wie dieser Raum gestaltet ist, muss elementarer Bestandteil jeder digital basierten Narration sein.
FEL1X //: Aber es gibt auch grundsätzliche und vor allem konzeptionelle ästhetische Überlegungen, wie Digitalität und Theater zusammengedacht werden können – und es gab sie schon vor Corona. Die Akademie für Theater und Digitalität beispielsweise wurde unter Direktion des damaligen Intendanten Kay Voges zur Spielzeit 2019/20 als sechste Sparte des Theater Dortmund gegründet.
KAY //: Damit forderten wir einen Beitrag des Theaters zur epochalen Aufgabe, die zahlreichen neuen Verbindungen von digitaler und analoger Welt, also die Digitalität, zu untersuchen: phänomenologisch, soziologisch, philosophisch, technisch und – als Kerndisziplin der AKADEMIE – künstlerisch.
FEL1X //: Ich denke die daraus erwachsenden Reflexionen zu Theater und Digitalität sind viel grundsätzlicher als die momentane Diskussion pro / contra Streaming. Mit ihnen muss sich das Theater aber zukünftig auseinandersetzen, wenn es nicht den Anschluss an die Lebenswelt seines Publikums verpassen will.
FAB1AN //: Apropos Publikum. Das Theater muss sich von dem Impuls lösen, seine Geschichten selbst und alleine erzählen zu wollen. Es geht nicht mehr darum, die Darstellenden auf Heldenreise zu schicken. Stattdessen macht das Publikum die Heldenreise im digitalisierten Theater selbst und kann über Rückkanäle Einfluss auf diese Reise nehmen.
FEL1X //: Meinst Du damit ein Raum-Schaffen, das – wie Cornelius anmerkt – nicht zwingend sofort etwas mit der Implementierung von Technik zu tun haben muss?
CORNEL1US //: Fabian und ich haben uns auf twitter auch schon darüber ausgetauscht. Was ich meine ist, dass in den meisten Stücken die Schauspieler*innen/Performer*innen einfach ihr Ding runter spielen und die Anwesenheit des Publikums eine marginale Rolle spielt. Ich meine ein präsentes Publikum, im Licht, mit Gesichtern und Geschichten, das Räume zum Agieren und Reagieren bekommt.
KATJA //: Solches Theater gab es bereits lange vor der Corona-Krise. Es wurde auf den kleinen Bühnen und in der freien Szene unter dem Schlagwort “Partizipation” erkundet. Es hat nicht Dramentexte als Vorbild, sondern Computer-Games. Es wird nicht von Künstler*innen-Genies gemacht, sondern von Expert*innen verschiedener Lebenswelten. Es wird nicht (unbedingt) für große Räume mit vielen Stühlen gemacht, sondern für Spielkamerad*innen, die bereit sind, Verantwortung für das gemeinsame Erlebnis zu übernehmen. Diese Kunst des Involvierens und Engagierens, die nicht selten als “Mitmach-Theater” gescholten wurde, hält mit den medialen Entwicklungen Schritt, ohne die Spezifika des Theaters aus den Augen zu verlieren und entwickelt daher seit Jahren die interessantesten neuen Formate für das Theater. Dieses Theater wird in der Krise am ehesten Mittel und Wege finden, Gemeinschaft trotz “social distancing” zu kreieren – und Lebenszeichen, die über den Live-Stream reichen.
T1NA //: Theater als Mittel gegen social distancing? Hat sich das Theater nicht bereits vor Corona selbst von seinen Nutzer:innen distanziert? Die nicht vorhandene Teilhabemöglichkeit an künstlerischen und auch an gesellschaftskritischen Diskursen, die hinter Theatertüren verhandelt werden, ist ein reelles Problem. Immer wieder wird der Bildungsauftrag von Theatern beschworen, der auf das eingeschriebene Potential zum Dialog, zur Debatte, zum Erkenntnisgewinn abzielt. Theater sind Teil eines institutionellen, öffentlich geförderten Diskursnetzwerkes. Ein Netzwerk, dem wir also ähnliche finanzielle Aufmerksamkeit beimessen wie Straßenbau und Schulen. Nur, was ist, wenn sich die Teile des Netzwerks partout nicht vernetzen wollen? Stellt euch das bei anderen Netzen vor. Straßen, die nirgendwo hinführen. Grundschulen, die irgendwann aufhören und dann steht man im Nichts und kann nicht bruchrechnen. Die Idee von gemeinschaftlich getragener Infrastruktur ist nicht erst seit dem digitalen Wandel der heiße Scheiß. Es setzt aber voraus, dass sich die Teile auch als Netzwerk verstehen und den Grundgedanken verfolgen, dass die Summe größer ist als die einzelnen Teile. Theater könnten in diesem Netz ein Router sein. Ein Theater, das sich als Router begreift, fördert den Datentransport (also Gedanken) zwischen Netzwerken (also Benutzergruppen). Es will die Befeuerung von Diskursen und Debatten zwischen Einzelnen und Gruppen in einem gesamtgesellschaftlichen Kontext und experimentiert dabei durchaus mit unterschiedlichen Transportwegen.
FAB1AN //: Corona macht auch die Notwendigkeit einer langfristigen Entwicklung eines Theaters deutlich, das fähig ist, Formate auch digital zu denken und das Internet als gleichberechtigten Produktionsort zu begreifen. Häuser müssen sich Personen suchen, die für ihr Haus Produktionen für das Internet machen oder zumindest Verbindungen dazu schlagen. Sei es, als digitales Ensemble mit Label im Spielplan, als Veranstaltungsreihe, die stark digital denkende Personen mit Barcamps oder kleinen digitalen Formaten ans Haus holt.
T1NA //: Das Netz bietet dem Theater ganz neue Möglichkeiten der Öffnung, der Verbreitung. Ihr könntet zum Beispiel eure Türen mal virtuell aufmachen und das, was ihr drinnen gebastelt habt, an die Luft schicken, auf digitale Wanderschaft sozusagen.
KATJA //: Es kann auch Spaß machen, mit Formaten zu experimentieren, für die sonst Zeit und Ressourcen fehlen. Und es muss natürlich nicht alles perfekt sein, was jetzt ausprobiert wird.
FAB1AN //: Die Situation ist für alle neu, wir können sie als Chance begreifen. Das Gute ist, dass niemand weiß, wie das funktioniert. Das heißt: Wir sind alle am Anfang. Das heißt, wir können gemeinsam etwas Neues entstehen lassen.
JAY //: for the people formerly known as the audience.
[ QUELLEN ]
nachtkritik, 7.4.2020 (Theaterpodcast – Monika Gintersdorfer und Christopher Rüping sprechen über die Coronakrise, Theater im digitalen Raum und den hyperaktiven Stillstand)
nachtkritik, 12.4.2020 (Theater und sein digitales Double von Christian Rakow)
nachtkritik, 30.3.2020 (Der Corona-Reflex von Katja Grawinkel-Claassen)
nachtkritik, 21.3.2020 (Warten auf die große Kunstparty von Sascha Westphal)
TAZ, 11.4.2020 (Hört auf zu streamen von Uwe Mattheiß)
54 Books vom 29.4.2020, (Körperlos? – Theater im digitalen Raum von Felix Lemp)
Medium, 25.3.2020 (Theater im Home Office von Fabian Raith)
Deutschlandfunk Kultur, 28.3.2020 (Das Smartphone als Bühne, Fabian Raith im Gespräch mit Janis El-Bira)
Deutschlandfunk Kultur, 16.3.2020 (Christopher Rüping im Gespräch mit Johannes Nichelmann)
Huffington Post, 30.6.2006 (The People Formerly Known as the Audience von Jay Rosen)
[ DISCLAIMER ] Wir haben die Redner:innen miteinander vernetzt, um die Grundgedanken und Motivationen von jtw-PLAY zu erläutern. Ausgesuchte Zitate wurden in die vorliegende Gesprächsform transferiert. Der Versuch einer Transformation des Gesagten stellt die Entwicklung und Realisation von jtw-PLAY & jtw-ARTSPACE dar. Weder hat dieses Gespräch jemals stattgefunden, noch waren die ausgesuchten Redner:innen an der Konzeption von jtw-PLAY oder jtw-ARTSPACE beteiligt.
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